Zeitreise: Der Wolf und wir - Geschichte einer Ausrottung

Stand: 05.05.2024 05:00 Uhr

Der Wolf ist nicht neu in Schleswig-Holstein. Er war schon da, als wir Menschen das Denken lernten. Später haben wir ihn systematisch ausgerottet - doch das ist noch nicht das Ende der Geschichte.

von Christian Schepsmeier

Es ist Wolfszeit in Schleswig-Holstein: Ein Mann beklagt "unersetzlichen Schaden", ein anderer vermisst seine "Kälber und Lämmer", sogar ein Pferd sei "zuschanden zerrißen" worden. Der Dreißigjährige Krieg ist gerade vorbei, immer mehr Menschen klagen über geraubtes Vieh und bedrohliche Begegnungen mit dem Wolf. Und ein Mann aus Havetoft berichtet, er sei nachts von drei Wölfen verfolgt worden und "auf einen Baum entflohen".

In so einer Wolfszeit liegt die Konsequenz auf der Hand: Der Wolf soll landesweit bejagt werden, und - so wünschen sich viele - am besten sogar ausgerottet. "Der Wolf steht für das Unkontrollierbare", sagt Professor Martin Rheinheimer von der Syddansk Universitet in Odense. "Er ist ein Symbol für das Böse und für den Tod."

Illustration von einem Mädchen mit einem Wolf in einem Wald. © Wallraf-Richartz-Museum
Marcus de Bye: "Wolf in Dreiviertelansicht" (1659), Graphische Sammlung, Wallraf-Richartz-Museum
Der Wolf war schonmal da

Martin Rheinheimer ist Geschichtswissenschaftler. Die Wolfszeit, die ihn beschäftigt, ist lange her. Die Nachrichten über Schäden und geraubtes Vieh stammen aus dem 17. Jahrhundert - aus der Zeit unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg, Dokumente darüber liegen im Landesarchiv Schleswig. Der Mann aus Havetoft (Kreis Schleswig-Flensburg) ist schon im Jahr 1648 auf einen Baum geflüchtet. Eine Zeit der Verunsicherung.

Die Klagen markieren den Beginn einer Ausrottungsgeschichte, lange vor der Wiedereinwanderung der Tiere aus dem Osten: "Das Ziel war, den Wolf auszurotten", sagt Martin Rheinheimer. "Das sind herrschaftliche Beschlüsse, mit Jagdprämien und ähnlichem". Der Historiker beschäftigt sich mit der Geschichte des Wolfs in Schleswig-Holstein. Mitte der 90er-Jahre hat er darüber einen viel beachteten Text mit dem Titel "Die Angst vor dem Wolf" geschrieben.

Porträt vom Historiker Martin Rheinheimer von der Syddansk Universitet. © NDR
Martin Rheinheimer erforscht die Geschichte des Wolfs in Schleswig-Holstein. Er arbeitet als Historiker an der Syddansk Universitet in Odense.
Der Wolf und der Krieg

Für Rheinheimer ist es kein Zufall, dass die große Jagd auf die Wölfe direkt nach dem Dreißigjährigen Krieg begann. Zum einen habe sich erst damals ein durchdringend mächtiger Staat entwickelt, der die Wölfe systematisch in jeden Winkel verfolgen konnte. Zum anderen sei damals die Angst vor den Wölfen immens gewachsen, auch als Folge des Krieges. "Die Wölfe haben auch die Toten auf den Schlachtfeldern gefressen", sagt Rheinheimer. Diese Nähe zum Tod habe den Menschen Angst gemacht.

Dabei hatten die Menschen sich eigentlich gegenseitig getötet. Es gibt damals so gut wie keine Berichte darüber, dass Wölfe Menschen angriffen oder töteten. Und doch sei ein politischer Wille entstanden, den Wolf ein für allemal auszurotten, so Rheinheimer: "Alle konnten sich in diesem Ziel treffen, weil alle Menschen den Wolf sozusagen als Feindbild haben, als Symbol für den Tod."

Der Wolf: Symbol für den Tod

Illustration von Rotkäppchen mit dem Wolf in einem Wald. © Wallraf-Richartz-Museum
Fritz Dinger: "Rotkäppchen mit dem Wolf", Radierung, Graphische Sammlung, Wallraf-Richartz-Museum.

Diese Vorstellung habe ihre Wurzeln in einer noch älteren Zeit, in der die Menschen einer unwirtlichen Umwelt schutzlos ausgeliefert waren. Der Wolf sei damals das perfekte Symbol für die Kräfte der Natur gewesen: wild, stark und frei. Seitdem Menschen denken können, lebt er deswegen auch in ihren Geschichten, Märchen und Bildern. Dabei ist der Wolf nicht nur ein negatives Symbol für den Tod. Seine Kraft spiegelt sich auch in positiveren Mythen wieder, wie etwa in der Erzählung von Romulus und Remus, den Gründern Roms, die ihre Muttermilch aus den Zitzen einer Wölfin gesogen haben sollen.

Für Martin Rheinheimer spiegeln sich in all diesen Bildern vor allem die Menschen selbst: Die Angst vor dem Wolf sei meistens eng verwandt mit der Angst vor dem eigenen Tod. Die Bosheit, die ihm unterstellt werde, sei eigentlich ein Spiegelbild der Bosheit des Menschen. Genau das habe nach dem Dreißigjährigen Krieg einen Ausdruck gesucht. In "Die Angst vor dem Wolf" schreibt Rheinheimer: "Man wollte nicht nur den Wolf ausrotten, man bekämpfte den Tod in Form von Krieg und Seuchen, der die Menschen in Angst und Schrecken versetzte."

Ausrottung mit Erfolg

Historisches Dokument über die Wolfsjagd. © Stadtarchiv Mölln
Forderung nach Wolfsjagd im Jahr 1666: in der Nähe des Ortes Salem halte sich ein alter "nebst etlichen jungen Wölffen" auf, die "aus dem Wege" geräumt werden sollten. (Quelle: Stadtarchiv Mölln)

Der Plan ging auf: Schon Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Schleswig-Holstein keine Wolfsrudel mehr. Im Jahr 1820 wurde ein letzter freilaufender Wolf erschossen. In einem Waldstück bei Brokenlande (Kreis Segeberg) zeugt ein Gedenkstein davon.

Der Mensch hat die Wölfe im Land ausgerottet. Aber seine Angst hat er dabei nicht besiegt: Das zeigte sich im Jahr 1963, als vier Wölfe aus dem Heimattiergarten Neumünster entkamen. "Das hat damals große Panik ausgelöst, dass plötzlich vier Wölfe frei rumlaufen", erzählt Rheinheimer. Zwei Wölfe seien schnell wieder eingefangen worden. Einer sei überfahren worden. Aber den vierten, den habe man nicht sofort gekriegt: "Man ist mit 40, 50 Leuten hinter ihm her und hat dann versucht, ihn zu erschießen."

Wieder mit Erfolg: Sie erlegten den letzten freilaufenden Wolf. Nun, 44 Jahre später, gibt es wieder Wölfe in Schleswig-Holstein. Eine neue Wolfszeit hat begonnen.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 05.05.2024 | 19:30 Uhr

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